Begriff
Die Gesprächspsychotherapie (GT) ist ein psychologisches Verfahren aus dem Bereich der Humanistischen Therapie, das überwiegend gesprächsorientiert ist. Es handelt sich bei der GT um eine eigenständige therapeutische Richtung, auch wenn die Bezeichnung Gesprächspsychotherapie manchmal irreführend für auf Gesprächen beruhende Psychotherapien im allgemeinen verwendet wird.
- Andere Bezeichnungen: Klientenzentrierte Psychotherapie; Klientenzentrierte/Personenzentrierte/Non-direktive Gesprächs(psycho)therapie.
- Verwandte Verfahren: Klientenzentrierte Kindertherapie; Klientenzentrierte Gesprächsführung; Focusing; Klientenzentrierte Körpertherapie; Encounter-Gruppen; Erlebnistherapie.
Geschichte
Die GT wurde von dem 1902 geborenen Psychologen Carl Rogers ab etwa 1940 in den USA begründet. In den 70ger Jahren kam die GT vor allem unter dem Einfluß von Reinhard Tausch nach Deutschland, wo sie inzwischen neben Verhaltenstherapie und Psychoanalyse eines der am häufigsten angewandten Therapieverfahren ist. Die Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie e.V. (GwG) zählte 1994 etwa 7500 Mitglieder.
Ziele
Heilung psychischer und psychosomatischer Störungen; Selbstaktualisierung oder Selbstverwirklichung der KlientIn, d.h. daß die KlientIn offen wird für ihre eigenen Erfahrungen, mit sich und anderen in Harmonie lebt und flexibel in ihrer Umwelt handelt; realistische Selbstwahrnehmung der eigenen Person; Selbstbestimmung und Autonomie.
Zielgruppe: Jugendliche, Erwachsene.
Vorgehensweise
Die GT wird als Einzel-, Paar- und Gruppentherapie eingesetzt. Die KlientIn bestimmt die Gesprächsinhalte, während die TherapeutIn auf diese Inhalte eingeht und die KlientIn dabei unterstützt, sich selbst zu erforschen. Es werden Anregungen, aber keine Ratschläge gegeben.
Im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses steht die KlientIn-TherapeutIn-Beziehung. Die TherapeutIn bemüht sich um die klientenzentrierte Grundhaltung, die durch drei Variablen gekennzeichnet ist: 1. Einfühlendes Verstehen (Empathie): Die TherapeutIn versucht, sich in die innere Welt der KlientIn hineinzuversetzen und sich deren Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen zu vergegenwärtigen. 2. Wertschätzung: Die TherapeutIn bemüht sich um eine bedingungslose Akzeptanz, Sympathie, Wärme und Respekt gegenüber der KlientIn. 3. Echtheit: Die TherapeutIn bemüht sich um Aufrichtigkeit gegenüber der KlientIn. Sie verstellt sich nicht, sondern nimmt ihre eigenen Gefühle im therapeutischen Prozeß ernst und teilt sie der KlientIn mit.
Es gibt zunehmend Differenzierungen innerhalb der GT, wobei einige PsychotherapeutInnen durchaus stärker strukturierend in den Therapieprozeß eingreifen. Viele GT-TherapeutInnen integrieren Elemente aus anderen Therapierichtungen in ihr klientenzentriertes Konzept, sodaß die GT heute nicht mehr ausschließlich auf Gesprächen beruhen muß.
Theorie
Für Rogers sind Menschen grundsätzlich gut. Wenn sie sich schlecht verhalten, ist dies eine Fehlanpassung, die aus Mißachtung der Selbstverwirklichungsbedürfnisse in der Kindheit, aber auch im Erwachsenenalter resultiert. Ein weiterer Kernpunkt seiner Theorie ist die Überzeugung, daß die menschliche Persönlichkeit an sich nach Selbstverwirklichung, Wachstum und Autonomie strebt. Psychische Störungen entstehen durch eine Hemmung oder Unterdrückung dieser Wachstumsbedürfnisse.
In der Therapie soll die ursprüngliche Fähigkeit zur Selbstverwirklichung dadurch wiederhergestellt werden, daß die Rahmenbedingungen der GT genau den Bedingungen entgegengesetzt sein sollen, die zu der Fehlanpassung geführt haben. Für die therapeutische Situation bedeutet das, daß die KlientIn als ExpertIn für ihre eigene Person angesehen wird. Durch Empathie, Wertschätzung und Echtheit soll ein angstfreier Rahmen geschaffen werden, der den KlientInnen ermöglichen soll, mit sich selbst wertschätzend umzugehen und ihre Gefühle und Wahrnehmungen ernst zu nehmen.
Der Verzicht auf Diagnostik in der GT wurde lange Zeit damit begründet, daß durch Diagnosen und Klassifikationen das komplexe subjektive Erleben der KlientInnen nicht erfaßt werden könne und daß das Diagnostizieren der klientenzentrierten Haltung widerspräche. Erst in den letzten Jahren gibt es ein Bemühen um eine eigene Krankheitslehre und ein nach Störungen differenziertes therapeutisches Vorgehen.
Ethische Unbedenklichkeit
Ziele und Vorgehensweise widersprechen nicht humanen Grundsätzen. Wegen der Betonung der Autonomie der KlientInnen sowie der klientenzentrierten Haltung, die durch Achtung vor den KlientInnen und Selbstreflexion der TherapeutInnen gekennzeichnet ist, verfügt die GT über einen hohen ethischen Anspruch. Die Verpflichtung der klientenzentrierten PsychotherapeutInnen zur ständigen berufsbegleitenden Supervision soll für die Einhaltung dieses Anspruchs sorgen.
Der Therapieprozeß ist an den Bedürfnissen der KlientInnen orientiert und deswegen transparent gestaltet. Die KlientInnen sollen durch die Therapie zu größerer Selbstbestimmung befähigt werden.
Erprobtheit & Risiken: Es gibt unseres Wissens keine spezifischen Risikostudien. Von daher können über Gefahren, Risiken und Kontraindikationen keine zuverlässigen Aussagen gemacht werden. Deshalb ist das Verfahren hinsichtlich möglicher Risiken trotz vieler Wirksamkeitsuntersuchungen nur begrenzt erprobt.
Von AnbieterInnenseite wird davor gewarnt, daß einige GT-Therapieziele (z.B. ständige Veränderungsbereitschaft, Flexibilität) bei solchen KlientInnen, für die Weiterentwicklung und Veränderung keine Werte sind, zu großer Verunsicherung führen können.
Wirksamkeit
Kontrolliert wissenschaftliche Untersuchungen belegen die Wirksamkeit der GT: Sowohl als Einzel- als auch als Gruppentherapie wird mit der GT fast immer eine bedeutsame Verbesserung der Hauptsymptomatik, des Wohlbefindens, des zwischenmenschlichen Beziehungsverhaltens und im Persönlichkeitsbereich erreicht. Die Wirksamkeit ist erhöht bei solchen KlientInnen, die ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung im therapeutischen Prozeß haben und die über ein gutes „Beziehungsrepertoire“ verfügen. Die Wirkung von GT ist bei stationärer Therapie und bei psychiatrischen PatientInnnen geringer als bei ambulanter Durchführung und anderen KlientInnengruppen. GT ist besonders geeignet für neurotische KlientInnen.
Zusammenfassung
Ethisch vertretbar. Begrenzt erprobt. Mit ausreichendem Wirkungsnachweis für die Behandlung von psychischen Störungen aller Art und als Hilfe bei der Bewältigung von Lebenskonflikten. Mit geregelten, auch heilkundlichen Ausbildungsgängen.
Verwendete Literatur
- 1015 ROGERS, CARL R. (1991): Therapeut und Klient – Frankfurt/M. (Fischer)
- 1017 GILLES, ASTRID (1987): Gesprächspsychotherapie; Reinbek bei Hamburg (Rowohlt); in: ZYGOWSKI, HANS (Hrsg.), Psychotherapie und Gesellschaft – Therapeutische Schulen in der Kritik, S.98-126
- 1018 GERL, WILHELM (1989, 2. Aufl.): Klientenzentrierte Psychotherapie; München (Heyne); in: SCHWERTFEGER, BÄRBEL – KOCH, KLAUS (Hrsg.), Der Therapieführer – Die wichtigsten Formen und Methoden., S.101-107
- 1019 LASSOGA, FRANK (1987): Gesprächstherapie: Zu viel Ideologie?; Weinheim, Basel (Beltz); in: REDAKTION PSYCHOLOGIE HEUTE (Hrsg.), Welche Therapie? Thema: Psychotherapie heute, S.57-72
- 1020 GESELLSCHAFT FÜR WISSENSCHAFTLICHE GESPRÄCHSPSYCHOTHERAPIE (1989, 4. Aufl.): Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie; Frankfurt/M. (Fischer)
- 1191 KRIZ, JÜRGEN (1985): Gesprächspsychotherapie (Rogers); München, Wien, Baltimore (Urban & Schwarzenberg); in: KRIZ, JÜRGEN (Hrsg.), Grundkonzepte der Psychotherapie, S.195-212
- 1213 GRAWE, KLAUS – DONATI, RUTH – BERNAUER, FRIEDERIKE (1994): Gesprächspsychotherapie; Göttingen, Bern, Toronto, Seat (Hogrefe); in: GRAWE, KLAUS – DONATI, RUTH – BERNAUER, FRIEDERIKE (Hrsg.), Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession, S.118-140